In manchen Nächten sieht die Straße aus wie eine perfekte Bühne für große und kleine Geschichten. Beim Blick aus dem Fenster denke ich dann darüber nach, ob es einen Film gibt, der in einer Nacht an so einer Kreuzung spielt.
Sicher!
Vielleicht kommt mir noch einer in den Sinn, während ich über mögliche Figuren nachdenke.
Ich hätte zum Beispiel gerne einen Werwolf, der ganz am Ende der Straße sitzt und den Mond anheult.
Es regnet.
Er schüttelt sein nasses Fell und rennt auf allen Vieren davon.
Später hören wir sein langgezogenes Geheul in der Ferne und fragen uns, ob er wohl einen Menschen angreifen wird. Schließlich ist er doch ein Werwolf, oder?
Als Nächstes fährt ein Fahrradfahrer mitten auf der Straße, er hat ein hohes Tempo drauf, will bei dem Mistwetter schnell nach Hause, wo hoffentlich eine warme, gemütliche Wohnung auf ihn wartet.
Oben wird er sich zuerst trockene Sachen anziehen und bestimmt eine Pizza in den Ofen werfen oder Reste von gestern in die Mikrowelle. Vielleicht wartet auch ein anderer Mensch auf ihn oder ein Tier oder beides oder vielleicht auch nur seine gemütliche Couch und ein Fernseher.
Was auch immer, alles sei ihm gegönnt!
Nun schlendern zwei junge Frauen auf die Kreuzung zu – komm, wir nennen sie Mädchen!
Sie sind doch höchstens Anfang zwanzig.
Sie kichern und haben sicher etwas getrunken.
Sie sind von einem Laden auf den Weg zum nächsten oder doch schon auf dem Heimweg?
Sie sind ausgelassen, unsterblich und pure Energie!
Sie begreifen das Licht der Laternen als ihre Bühnenbeleuchtung.
Sie ziehen ihre Schuhe aus, halten sie in den Händen und tanzen barfuß, lachend und singend im gelben Laternenschein durch die Pfützen in der Mitte der Straße.
Wird es für sie ein ebenso wunderbarer und unvergesslicher Moment sein wie für jeden Menschen, der dieses spontane, bezaubernde Spektakel beobachten darf?
Oder wachen sie morgen mit einem Kater auf, der ihnen nur ein paar verschwommene Erinnerungen an nasse Füße bietet?
Das täte mir wirklich leid für sie.
Natürlich darf ein frisch verliebtes Pärchen nicht fehlen!
Du hast sicher auch schon auf sie gewartet, oder?
Verliebte gehören auf so eine malerische Straße bei Nacht wie Butter auf eine Scheibe Brot!
Hier lenkt sie nichts voneinander ab, und sie können sich gemeinsam so herrlich allein auf der großen, weiten Welt fühlen, die gerade ganz ihnen gehört. Alle anderen Menschen sind nur Nebendarsteller.
Sie reden und reden und reden, sehen sich tief in die Augen – immer wieder, mal ganz kurz, doch immer öfter und immer länger.
Ihre kleinen Finger treffen sich, wenn sie nebeneinander gehen. Berühren sich ganz zufällig, immer wieder – siehst Du?
Und plötzlich laufen sie Hand in Hand, als wäre es das Natürlichste der Welt, während in Wirklichkeit gerade kleine Atombomben in ihrem Inneren explodieren.
Oh, Hormone!
Hach, die beiden sind so wunderschön!
Gnade ihnen Gott oder Werauchimmer!
Sie lachen, reden und reden weiter, gestikulieren nun einhändig, wegen dieser neuen Verbundenheit, als sie die Kreuzung überqueren.
Mittlerweile regnet es nicht mehr, aber ich glaube, das ist ihnen ohnehin egal.
Wir verlieren sie aus dem Blickfeld.
Wohin sie ihr Weg wohl führt?
Jetzt haben sie ihren Auftritt:
Eine gemischte Gruppe auf dem Weg von A nach B. Die Heuschreckenplage der Nacht.
Ein paar Männer, ein paar Frauen.
Natürlich sind sie alle betrunken.
Natürlich gibt es diese besonders lauten Leute – die Lautsprecher und Lautlacher.
Sie rufen sich über die Köpfe hinweg Sätze zu und zurück, dann fängt einer an zu singen, und die anderen stimmen ein. Einige lachen dabei ein wenig verlegen, weil ihnen ja irgendwie schon bewusst ist, dass sie gerade nachts laut singend durch eine normale Straße ziehen, vorbei an Häusern, hinter deren dunklen Fenstern andere Menschen wohnen und schlafen – was also ein bisschen verrückt und gleichzeitig doch völlig egal ist … ja, wir sind schon ein verrückter Haufen, wir dürfen auch mal aus der Reihe tanzen, denken sie kichernd.
Es gibt so viele Menschen mit nerviger Lache.
Alkohol lässt leider nur den Trinkenden alles egal sein.
Wir haben sie bald überstanden. Sie werden schon leiser.
Zwischen all den Menschen und mystischen Gestalten laufen auch ganz normale Tiere über diese nächtliche Bühne.
Schau da: ein Igel im Gebüsch, zwei Katzen, ein Marder und da ein Fuchs, der unter den Autos hindurch huscht. Ganz leise und schnell.
Wie kleine Werbeunterbrechungen.
Da ist schon viel los auf so einer kleinen Kreuzung bei Nacht.
Ein Film darüber ist mir noch immer nicht eingefallen.
Also denke ich mir bis dahin selbst einen aus.