Haltlos

Wohin der Zug fährt?
Wir haben es schon lange vergessen oder nie gewusst.
Die Fahrt geht immer weiter.
Wir sitzen bequem und können aus dem Fenster schauen.
Auf eine schöne Gegend folgt eine hässliche, davor eine öde Landschaft.
Und dann wieder alles von vorn.
Ein endloser Kreislauf. Keine Höhepunkte. Nur mal etwas besser und dann wieder etwas schlechter.
Hin und wieder sieht es in der Ferne aus, als wäre dort eine Haltestelle.
Doch meist ist es nur ein verlassener Bahnhof, an dem der Zug nicht hält. Wir sind bereits an vielen dieser Art vorbeigefahren.

Manchmal laufen andere Fahrgäste durch den Zug.
Gerade schaut eine Frau ins Abteil hinein und öffnet die Tür. Ich habe sie schon ein paar Mal gesehen. Sie ist dünn, trägt immer sehr bunte Kleider, und heute wirkt sie müde. Was sie in der Hand hält, sieht zuerst aus wie eine Getränkedose. Doch es ist eine schlichte Blechdose mit Deckel. Sie schüttelt sie leicht, lächelt verschwörerisch und behauptet, es sei die echte Büchse der Pandora.
Sie fragt mich, ob sie sie jetzt mal öffnen soll.
„Natürlich nicht“, antworte ich.
Doch sie hält es trotzdem für eine gute Idee. Ihr sei langweilig – diese ewige Warterei auf den nächsten richtigen Bahnhof, der niemals kommt.
„Und selbst wenn wir mal anhalten, an dieser von allen ersehnten Haltestelle…“, sie hebt fragend eine Augenbraue, „…vielleicht ist es dort ein schrecklicher Ort? Schon mal darüber nachgedacht? Chaos ist immerhin eine Chance auf Verbesserung.“
„Ich weiß gar nicht genau, was passiert, wenn die Büchse der Pandora geöffnet wird“, gebe ich zu. „Irgendwas mit absolutem Verderben, oder?“
„Ja, so in etwa. In der griechischen Mythologie war Pandora die erste von Göttern erschaffene Frau. Sie war, wie geplant, schön, klug und neugierig. Zeus gab ihr eine Büchse, die sie niemals öffnen sollte. Aber weil Neugier quasi ihre Sollbruchstelle war, tat sie es natürlich doch und alles Übel der Welt entwich: Krankheit, Schmerz, Tod, Neid, Hass, Elend. Damit ging Zeus’ Racheplan an der Menschheit auf, denn er ärgerte sich darüber, dass Prometheus den Menschen das Feuer gebracht hatte. Warum ausgerechnet sie dafür büßen mussten, habe ich auch nie verstanden.“
„Ok, soweit so schlecht. Aber zwei Fragen: Erstens – woher haben Sie eigentlich diese Dose? Zweitens – das ganze Übel ist doch längst auf der Welt und somit auch hier im Zug. Was würde sich also ändern?“
Sie runzelt die Stirn: „Ich habe diese original Büchse der Pandora im Internet gekauft. Auf einer äußerst glaubwürdigen Seite. Mit Zertifikat.“
„Von Zeus oder einem anderen Gott?“
Darauf antwortet sie nicht mehr. Sie schließt kopfschüttelnd die Tür hinter sich und geht ein Abteil weiter.
Wenn mir jetzt gleich schlecht wird, muss es also nicht am Frühstück liegen, denke ich. Daran könnte dann auch die arme Pandora schuld sein.
Wir können uns hier im Zug etwas aus dem Internet bestellen? Das eröffnet ja völlig neue Möglichkeiten. Oder hatte die Frau sich die Büchse schon vor ihrem Einstieg besorgt? Wenn ich sie das nächste Mal sehe, muss ich sie unbedingt danach fragen.

Gerade habe ich das Abteil ganz für mich allein, so oft kommt das nicht vor. Ich lehne mich an die Seitenwand und strecke zufrieden die Beine auf der Bank aus. Ich schaue aus dem Fenster. Der Ausblick ist nett: ein dichter Wald. Manchmal kann man darin sogar kurz ein Tier entdecken.

„Hallo?“ Jemand rüttelt vorsichtig an meinem Fuß. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Ein älterer Mann sitzt mir gegenüber. Er trägt einen Anzug, der schon bessere Tage gesehen hat, die Ärmel sind leicht abgewetzt, und hält einen aufgeklappten Plan auf dem Schoß. Mit dem Zeigefinger fährt er über die Linien.
„Hallo“, ich setze mich gerade hin und fühle mich noch ein wenig benommen.
„Entschuldigen Sie die Störung. Wissen Sie, wann wir am nächsten Bahnhof ankommen?“ Er hält mir einen Abschnitt seiner abgegriffenen Karte entgegen.
Ich muss etwas lachen. „Nein. Tut mir leid.“
Er schaut mich irritiert an. „Sie müssen doch den Fahrplan kennen?!“
„Sie sind noch nicht lange hier?“, frage ich ihn zurück.
„Ich weiß es nicht. Aber jeder Zug muss sich schließlich an einen Fahrplan halten. Wenn Sie mir nicht helfen können, frage ich mal die Herrschaften nebenan. Einen schönen Tag noch.“
Er erhebt sich und faltet knisternd seine Karte wieder zusammen. Dabei erkenne ich, dass dort keine Städte verzeichnet sind, nur leere Flächen und Linien. Doch in der Mitte steht ein Name oder Wort, mehrfach mit Stift umkreist. Durch eine tiefe Papierfalte lässt es sich nicht vollständig entziffern.
Dann greift der Mann nach seinem Koffer und tritt hinaus auf den Gang.

Bevor ich die zurückgewonnene Ruhe genießen kann, wird die Tür erneut aufgerissen.
Eine Frau mit Kind. Das Mädchen, wohl im Grundschulalter, hält sie an der einen Hand, schiebt es leicht vor sich her. In der anderen trägt sie einen großen Koffer und unter den Arm geklemmt einen Strauß Blumen, schon etwas ramponiert, aber sicher einmal wunderschön. Ein paar Blütenblätter liegen bereits auf dem Boden.
„Dürfen wir?“
„Natürlich, gerne.“
Das Mädchen setzt sich mir gegenüber ans Fenster. Um ihren Hals hängt an einem breiten Band ein Fernglas, das sie nun mit beiden Händen vor die Augen nimmt und an die Scheibe drückt.
Die Frau lässt sich neben ihr nieder. „Ach, lass das doch mal!“, sagt sie kraftlos.
„Ich will aber die Haltestelle als Erste sehen“, sagt das Mädchen ernst, ohne sich umzudrehen. Die Scheibe beschlägt leicht unter ihren Worten.
„Na, dann mach mal.“ Die Frau seufzt und wendet sich lächelnd zu mir. „Wir sind bestimmt bald da. Meine Blumen brauchen dringend Wasser.“
„Auf den WCs im Gang gibt es Wasserhähne“.
„Ja, aber ich will hier nicht rumpanschen. Wir sind ja bald da“, sagt sie wieder.
„Wenn Sie das sagen“, sage ich.
Ich krame in meinem Rucksack und hole ein Buch hervor. Die Geschichte nimmt schnell Fahrt auf, und ich lasse mich gerne mitreißen.
Wann die Frau und das Mädchen gegangen sind, habe ich nicht mitbekommen. Ich wache erst wieder auf, als es laut an die Tür klopft: „Brötchen?“

Der Brötchenmann kommt öfter vorbei. Vielleicht etwas älter als ich, immer gut gelaunt. Manchmal unterhalten wir uns, wenn er Zeit hat. Seinen Namen habe ich irgendwann vergessen und jetzt traue mich nicht mehr, erneut danach zu fragen.
Er trägt eine große Tasche mit frisch belegten Brötchen, aus der es verführerisch duftet, und in der anderen Hand eine Thermoskanne.
„Gerne“, antworte ich und deute auf den freien Platz mir gegenüber.
Wortlos reicht er mir ein Brötchen, meinen Geschmack kennt er inzwischen. Sich selbst gießt er ein dampfendes Getränk in einen Becher und lehnt sich zufrieden zurück.
Ein paar Minuten einvernehmliche Stille, nur mein Kauen, sein Schlucken und das monotone Rollen des Zuges.
Mit Blick aus dem Fenster sagt er: „Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich schon immer hier unterwegs, ohne Anfang und ohne Ziel. Als wäre alles schon immer so. Wissen Sie, was ich meine?“
„Oh ja“, sage ich.
„Ich glaube, ich fahre nur mit, um Brötchen unter die Leute zu bringen. Ich kaufe sie ein paar Abteile weiter hinten. Viele Leute warten jeden Tag darauf. Das ist irgendwie mein Job geworden.“
„Dann sind Sie gar kein Angestellter hier?“
„Nein“, er lacht. „Mir ist nur langweilig.“
„Und was machen Sie, wenn alle satt sind?“
Er zuckt gelassen mit den Schultern, als könnte ihn diese Vorstellung nicht im Geringsten beunruhigen. „Dann warte ich, bis wieder jemand Hunger hat. Dauert nie lange. Oder ich suche mir eine andere Beschäftigung. Oder hoffe mit allen anderen auf eine Haltestelle.“
Ich bin schon oft pragmatisch, aber er ist wohl der fröhlich pfeifende König der Pragmatiker. Vielleicht fährt der Zug ja gar nicht irgendwohin, sondern nur im Kreis, und ihm wäre es egal. Beneidenswert.