Bernd

Es begann an einem herrlich sonnigen Frühlingstag mit meinem Sturz. Beim Einkauf auf dem Markt blieb ich mit dem Fuß an einem Draht hängen und lag eine unendlich lange Sekunde später auf dem Steinboden. Als Letztes berührte mein Kinn den Boden. Ja, alles tat tagelang fies weh, doch war zum Glück kein Beinbruch. Noch nicht mal die Jeans war kaputt gegangen. Die Schwellung an den Knien ging schnell zurück und meine Schienbeine schillerten bald in allen Regenbogenfarben. Von Weitem hätte man es locker für coole Tattoos halten können. Insgesamt war ich recht glimpflich davon gekommen.
Leider entzündete sich dann das aufgeschürfte Kinn, weil ich zu schnell den Schorf abgekratzt und dann allergisch auf eine Salbe reagiert hatte. Mist!
Darum trug ich nun seit Tagen ein Pflaster im Gesicht, genau in der Mitte des Kinns, weiß und rechteckig, das aussah wie ein Ein-und-Ausschalter.
Ich war genervt und rechnete mit einer Narbe.
Genervt war ich auch von den zahlreichen „Zum Mitnehmen“-Stellen in unserer Wohngegend. Das hat hier im Laufe der Jahre Überhand genommen. Natürlich gibt es Sachen, die auf diesem Wege neue Besitzer finden, aber ein Großteil ist einfach nur Schrott, altes und kaputtes Zeug, das faul unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit an Hauseingängen, Bänken und Gehwegen entsorgt wird.
Ich war noch nie auf die Idee gekommen, von dort etwas mitzunehmen. Doch ein paar Tage nach dem Sturz lag auf einer dieser Müllecken ein dicker alter Wälzer mit dem Titel „Hausrezepte“. Im Vorbeigehen blieb mein Blick daran hängen. Er sprach mich irgendwie an, sah gut erhalten und sauber aus. Ich blieb stehen, griff nach dem schweren Buch und nahm es spontan mit. Ohne weiter darüber nachzudenken. Noch nicht mal darin geblättert hatte ich.

Oben in der Wohnung warf ich natürlich einen Blick hinein. Als ich es zum ersten Mal aufschlug, einfach irgendwo in der Mitte, stand auf der Seite die Überschrift „Schnelle Wundheilung“. Ich schwöre! Echt!
Die Zutatenliste für dieses alte Hausrezept, das eine blitzschnelle Wundheilung versprach, war überraschend. Ich werde mich hüten, sie hier aufzuzählen, Ihr müsst mir einfach glauben, dass es teilweise sehr merkwürdige Zutaten waren.
Man sollte alles in einem feuerfesten Topf vermengen und darin über Nacht bei 190 Grad im Ofen backen lassen.
Mein Mann war etwas skeptischer als ich, doch neugierig waren wir beide auf das Ergebnis am nächsten Morgen. Ich rechnete mit einem Pulver oder einer Art Paste. Es standen keine Anwendungshinweise unter dem Rezept.

Beim ersten Blick durch die Ofentür sah ich am Morgen, dass der Deckel neben dem Topf auf dem Backblech lag. War der Inhalt so aufgegangen, dass er hinuntergerutscht war?
Ich öffnete die Tür und zog das Blech mit dem Topf heraus und im Topf saß ein kleiner Drache. Etwa so groß wie ein Apfel, aber schlank und braun, mit Flügeln, winzigen Krallen und einem schmalen Kopf mit nadelspitzen Zähnchen. Wobei ich jetzt nicht glaube, dass ich sofort begriffen hatte, was ich da sah. Eher dachte ich irgendwas Konfuses zwischen Schreck und Ekel und WTF. Und schmiss die Ofentür wieder zu.

Wahrscheinlich hatte ich dabei ein lautes erschrockenes Geräusch von mir gegeben, denn kurze Zeit später stand mein Mann neben mir und wir schauten beide durch die Glastür in den Ofen. Aus dem Topf guckte der kleine Drachenkopf neugierig zu uns hinaus.
„Das ist keine Salbe.“
„Nee… Das ist keine Salbe.“
Wir waren angemessen verwirrt.
„Stand davon nichts in dem komischen Buch?“, fragte er.
Unter dem Rezept war ein winzigklein gedruckter Verweis auf eine andere Seite im hinteren Teil des Buches, wie wir nun entdeckten. Dort lasen wir, dass der Drache eine Art Manifestation der Wunde war. Oder so. Der Text war ziemlich verworren geschrieben. Jedenfalls bliebe die Wunde narbenlos verschwunden, solange der Drache lebt. Und wirklich, als ich das Pflaster entfernte, sah es darunter aus, als wäre niemals etwas geschehen.
Nun waren wir angemessen beeindruckt.
„Und jetzt?“, fragte ich.
„Gute Frage. Was machen wir mit dem … Drachen?“ Er sah in den Ofen und fing an zu grinsen. „Bist du jetzt eine Khaleesi?“
„Nein, ich bin keine Drachenmutter. Wird der etwa größer? Das könnte problematisch werden.“
Im Buch stand, dass sich die Körpergröße nach der Menge des Futters und der Größe des Käfigs entwickelt. Was erst mal eine beruhigende Aussage war. Wohl ähnlich, wie es bei Goldfischen sein soll.

Nicht zuletzt, weil man so einen kleinen Drachen nicht einfach ins nächste Tierheim bringt, beschlossen wir, ihn zu behalten. Er war schnell zutraulich und ist überhaupt ein echt niedliches Kerlchen.
„Wie wollen wir ihn nennen?“, fragte ich am Abend meinen Mann, der gerade einen Artikel über die gesichert rechtsextreme Partei las und spontan „Bernd“ antwortete.
„Bernd der Drache?“
„Nee, keine Ahnung, uns fällt bestimmt was Besseres ein.“
„Warum eigentlich nicht? Gibt ja auch noch andere Bernds. Stromberg zum Beispiel. Oder das Brot. Irgendwie hat er auch was von einem Bernd.“

Also haben wir nun zwei Katzen und einen Drachen. Die Katzen finden Bernd noch immer ein wenig unheimlich. Besonders, weil er kurze Strecken fliegen und etwas Feuer spucken kann. In der Stärke und Zuverlässigkeit von einem fast leeren Feuerzeug. Würde ich noch rauchen, wäre es schon cool, mir mal von einem Drachen die Zigaretten anzünden zu lassen. Stattdessen üben wir gerade das Anzünden von Kerzen.
Er hat ein großes (doch nicht zu großes) Terrarium bekommen, das feuerfest und gemütlich eingerichtet ist. Natürlich darf er oft raus, doch man muss ihn im Auge behalten – vor einigen Tagen hat er ein Kissen in Brand gesetzt und wir haben schon einige Shirts mit Brandflecken.
Bisher haben wir kein weiteres Rezept aus dem Kochbuch ausprobiert. Und es auch erst mal nicht vor.
Ich wüsste zu gerne, was der Vorbesitzer mit dem Buch erlebt hat.

Anmerkung:
Dem aufmerksamen Leser wird sicher aufgefallen sein, dass das hier keine 100%ig wahre Geschichte ist. Erwischt! Der Bernd aus der schrecklichen Partei heißt eigentlich Björn. Schuld daran ist die „heute-show“ und Bernd klingt einfach besser.