Autor: SK

  • Zwischen Wipfeln und Wirklichkeit

    Zwischen Wipfeln und Wirklichkeit

    Es gibt Tage, da zieht es mich fort. Nicht an einen konkreten Ort, nicht auf eine bestimmte Insel oder in ein bestimmtes Land. Sondern einfach weg – irgendwohin, wo es grün ist, lebendig, wild. Ich sehne mich nach Wäldern, nach Dschungeln, nach tropischen Bäumen, deren Blätter groß und weich sind wie Hände, die einen halten. Ich sehne mich nach dem Rascheln, nach fremden Geräuschen, nach feuchter Luft, nach dem Gefühl, dass alles wächst und atmet.

    Diese Sehnsucht ist alt. Sie begleitet mich schon lange. Damals, als ich noch regelmäßig getrunken habe, war sie besonders laut. Im Rausch träumte ich mich oft an solche Orte. Ich sah mich selbst dort: entspannt, frei. Vielleicht mit einer Kamera im Rucksack. Vor allem aber – glücklich. Es war, als würde das Grün meiner Seele etwas geben, was ihr sonst fehlt. Vielleicht war es Ruhe. Vielleicht war es Trost. Vielleicht war es einfach das Gefühl, nicht verloren zu sein.

    Es ging mir nie um das „Karibik-Feeling“, nicht um Cocktails unter Palmen oder kitschige Sonnenuntergänge. Es geht um etwas Tieferes. Um das, was Pflanzen mit mir machen. Was der Anblick von Blättern, Stämmen, Moos mit mir macht. Wie sie mich erden. Wie sie meine Gedanken langsamer werden lassen, leiser. Ich sehe Natur, und etwas in mir wird still. Friedlich. Ganz.

    Aber immer, wenn ich daran denke, wirklich zu gehen – also wirklich –, kommt sie wieder: diese Angst. Die Urangst, alleine zu sein. Nicht die Angst vor anderen Kulturen oder Menschen. Sondern davor, mich nicht zurechtzufinden. Mich zu verlieren. Allein zu sein mit mir. Ich glaube, diese Angst ist nicht neu. Sie ist alt. Sehr viel älter als ich es je sein werde.

    In meinem Leben war Alkohol lange mein Kompass. Mein Betäubungsmittel, mein Trost, meine Pause-Taste. Er hat mich ruhig gemacht, wenn ich es nicht selbst konnte. Ich weiß, dass er mich krank gemacht hat. Körperlich. Seelisch. Aber er war da. Immer. Und er hat es mir möglich gemacht, diese Sehnsucht zumindest im Kopf zu leben.

    Heute trinke ich nicht mehr. Aber die Sehnsucht ist geblieben. Und die Angst auch. Und irgendwo dazwischen sitze ich – nüchtern – und schaue mir die Fotos im National Geographic an. Oder den Baum vor meinem Fenster. Und manchmal reicht das. Manchmal nicht.

    Vielleicht ist das Leben genau das: eine Reise durch Wälder, die wir nicht kennen, mit einer Karte, die wir selbst erst zeichnen müssen.

  • Time Warp in der Unterhose

    Time Warp in der Unterhose

    Eine Erinnerung an Liebe, Angst und Reiskörner

    Es war ein früher Morgen, irgendwann gegen sechs, und der Regen hatte aufgehört, nur um als feiner, hartnäckiger Nebel zwischen den Straßenlaternen zu tanzen. Wir saßen auf der Treppe vor einem geschlossenen Geschäft, noch halb wach von der Nacht zuvor, jede Zelle voller Nikotin, Alkohol, Redseligkeit.
    Sie trug ihre Jacke offen, ich meinen Stolz lose in der Brust, und zwischen uns stand eine halbleere Bierflasche.
    Ich erinnere mich, dass sie lachte, als ich sagte, dass man über Gott und die Welt nicht diskutieren kann, wenn man keine Ahnung von beiden hat.
    Sie sagte nur: „Ach, Quatsch. Gerade dann.“

    Ich war unsterblich verliebt. Anders kann ich es nicht beschreiben.
    Ich hatte ihren Pullover heimlich mitgenommen und unter mein Bett gelegt, und jeden Abend roch ich daran, als hinge mein Herz daran, diesen Geruch nie zu verlieren. Es war diese Art von Liebe, die einen ein bisschen irre macht. Gefährlich.

    Als wir dann zusammenkamen, erzählte sie mir, dass sie sich für mich von einer Frau getrennt hatte.
    Ich sagte: „Okay.“
    Sie sagte: „Ist das ein Problem?“
    Ich sagte wieder: „Okay.“ Und meinte eigentlich: „Ich habe keine Ahnung.“
    Ihre Ex-Freundin war eifersüchtig – und aus heutiger Sicht wahrscheinlich zu Recht. Nicht, weil ich sie gestohlen hätte. Sondern, weil ich Angst hatte, sie zurückzugeben.
    Nicht an einen anderen Mann, damit hätte ich vielleicht noch umgehen können. Aber an eine Frau?
    Das war für mein 20-jähriges Ich ein beunruhigender Gedanke.
    Nicht, weil sie bisexuell war – das war nie das Problem. Ich war das Problem.
    Ich fühlte mich schlicht ungenügend. Als ob es eine Konkurrenz gäbe, gegen die ich weder Stärke noch Verständnis aufbringen konnte.

    Und dann kam Rocky Horror.
    Sie wollte unbedingt hin. Live-Vorstellung, mit allem drum und dran – Kostüme, Publikum, Wahnsinn.
    Ich war… nicht begeistert.
    Ich kann nicht tanzen. Ich kann nicht mal so tun, als würde ich tanzen.
    Die Vorstellung, da zu sitzen und beim „Time Warp“ aufspringen zu müssen, um irgendwelche Schritte mitzumachen, ließ mir kalte Schauer über den Rücken laufen.
    „Dann eben nicht tanzen“, sagte sie. „Aber du kommst mit.“
    Ich kam mit.

    Was soll ich sagen? Es war bizarr. Es war laut. Es war wild. Es war, als hätte jemand meine ganze Vorstellung von Theater, Film und Normalität auf links gezogen. Ich erinnere mich an Fishnets, Männer in Korsetts, Brüste, Gesang, Rufe aus dem Publikum – und an Reis. So. Viel. Reis.

    Aber es blieb nicht bei dieser einen Vorstellung. Zuhause musste ich die Rocky Horror Picture Show dann auch regelmäßig auf Video anschauen.
    Sie liebte den Film. Ich… weniger.
    Anfangs war ich einfach nur verunsichert – von den Figuren, der Musik, der grellen Sexualität, die alles durchdrang.
    Später wurde es einfach nervig.
    Nicht der Film an sich. Sondern das Gefühl, dass ich mich darin irgendwie verlieren musste, um ihr zu gefallen.

    Und dann lernte ich ihre Ex-Freundin kennen. Die Frau, von der sie sich für mich getrennt hatte.
    Ich hatte mit allem gerechnet – mit einer distanzierten, feindseligen Atmosphäre, mit Sticheleien, mit einem subtilen Konkurrenzkampf.
    Stattdessen… verstanden wir uns ziemlich gut.
    Wir lachten über denselben Unsinn, hatten einen ähnlichen Musikgeschmack und waren beide ein bisschen überfordert von dieser übergroßen, intensiven Person, die wir – auf unsere je eigene Weise – geliebt hatten.

    Wobei: übergroß war sie eigentlich gar nicht.
    Im Gegenteil.
    Sie hatte selbst genug Baustellen, über die wir lange erst nichts wussten.
    Sie wirkte stark, bunt, furchtlos – aber dahinter war eine junge Frau, die nicht so recht wusste, wo sie hingehörte.
    Sie hatte ihre Themen mit Nähe, mit Bindung, mit Sexualität an sich.
    Ich dagegen… hatte ein ganz anderes Problem: Ich hatte keine Probleme mit Sexualität. Aber mit Verlust. Mit der Angst, nicht zu genügen.

    Und so standen wir da – ich, die Ex-Freundin, sie – ein seltsames Dreieck aus alten Lieben, unscharfen Identitäten und unausgesprochenen Fragen.
    Aber wir hatten eins gemeinsam:
    Wir hatten sie genommen, wie sie war.
    Unfertig. Ungeschminkt. Echt.

    Wir haben heute keinen Kontakt mehr.
    Nicht sie und ich. Nicht ihre Ex-Freundin und ich. Nicht sie und ihre Ex.
    Manchmal finde ich das schade.
    Weil wir zusammen etwas erlebt haben, das sich nach mehr angefühlt hat als nur eine flüchtige Episode im Leben.
    Weil wir in manchen Momenten ehrlich waren. Offen. Verletzlich. Und genau deshalb verbunden.

    Aber vielleicht ist es auch gut so.
    Vielleicht war das, was uns verbunden hat, zu wild, zu roh, zu intensiv, um es in den Alltag hinüberzuretten.
    Vielleicht war das Leben, wie wir es damals zusammen gedacht haben, einfach eine Nummer zu hoch für uns.
    Vielleicht hätte es uns alle irgendwann zerrieben.

    Und trotzdem: Wenn ich zurückblicke, dann nicht mit Groll.
    Sondern mit einem weichen Lächeln.

    Denn auch wenn es vorbei ist – es war echt.
    Und das reicht.

    Manchmal bleiben einem nicht die großen Momente im Herzen.
    Sondern der Geruch eines Pullovers.
    Ein Tanz, den man nicht tanzen wollte.
    Eine Ex-Freundin, die keine Gegnerin war.
    Und nicht nur Reiskörner in der Unterhose.

  • Über Alkohol und Routinen

    Über Alkohol und Routinen

    Ich gehe stark davon aus, dass die Dunkelziffer derer, die in ihrem Leben mal darüber nachgedacht haben, ein Buch zu schreiben, sehr viel höher ist, als man glauben mag. Auch mich hat das schon immer gereizt und tatsächlich habe ich auch mal eine, sagen wir mal, „längere Geschichte“ geschrieben.

    Damals, anno Zweitausend, war es eine Novelle, in der der Protagonist den frauenverprügelnden Exfreund seiner großen Liebe umbringen will. Für das, was ich selbst immer noch manchmal gern als Film sehe, hatte das tatsächlich Potenzial.

    Würde ich heute ein Buch schreiben, würde ich vom Altern und den wirklich erlebten Geschichten erzählen. Von weisen Menschen, die sich selbst gefunden haben. Oder durchweg suchen.
    Und dass auch ich immer auf der Suche nach einer gewissen Weisheit bin. Nach Ruhe. Frieden mit der Welt. Frieden mit mir.

    Bonjour tristesse

    Diesen Frieden bekomme ich mittlerweile beim Training. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich mal auf einen Halbmarathon vorbereiten und gleichzeitig an meinen Kraftwerten, besonders beim Kreuzheben im Parallelgriff, arbeiten würde. Für mich gab es eigentlich immer nur Musik und Fotografie. Ab und zu Literatur und Malerei. Immer getränkt von Alkohol.
    Erst spät habe ich begriffen, dass ich süchtig bin. Nicht nach Alkohol oder Nikotin. Es war die Sucht nach Befriedigung, nach Ruhe, nach Auslastung. Irgendwas von Bestand. Süchtig nach Inhalt. Leben. Lebensinhalt.

    Zum jetzigen Zeitpunkt rauche ich seit einigen Jahren nicht mehr und bin auf dem direkten Weg zu 10 Jahren ohne Alkohol. 
    Mit dem Trinken habe ich aus gesundheitlichen Gründen aufgehört. Mit Rauchen durch einen Trigger. 
    Ich dachte jeweils anfangs, dass ich, besonders durch den Verlust von Alkohol, nie mehr kreativ sein könnte. Oder mein Feeling für Musik abhanden gekommen wäre. Aber genau das Gegenteil war immer der Fall. Ich spielte präziser, klarer, komplexer. 

    Wenn ich schon keinen Alkohol mehr trinken kann, sollte ich wenigstens noch eine Zeit lang rauchen. Bis eben dieser eine Moment kam. Rückblickend war es ein Befreiungsschlag, den es schon viel früher gebraucht hätte.

    Das sind die Dinge, über die ich schreiben wollen würde. Detailliert. Nicht einfach nur, um es loszuwerden. Es tut gut! Und es sind keine schlechten Geschichten. 
    Wie die Jahre, die ich in Bands gespielt habe. Was das mit mir gemacht hat. Und mit anderen: Beziehungen haben darunter gelitten. Das tun sie nun mal hin und wieder. Es ist schmerzhaft, aber es gehört zu einem Leben. Darüber würde ich schreiben, wenn ich vom Laufen schreiben würde.
    Es ist hin und wieder schmerzhaft und ab und zu zwickt es. Aber man steht das durch und läuft weiter.

    Clint Eastwood (bei Erstellung dieses Eintrages 94 Jahre) hat gerade einen weiteren Film gedreht: Juror #2.
    Nochmal langsam: mit 94 Jahren. 
    Das ist es: einfach das sein, was man ist. Jeden Tag. Ein Leben lang. Mal mehr, mal weniger. Aber immer irgendwie in seiner Spur. Wie auch immer die aussehen mag. Sei einfach nur kein Arschloch.
    Inspirierend!

    „Only the disciplined ones are free in life. If you’re indisciplined you’re a slave to your moods, you’re a slave to your passions.“ (Eliud Kipchoge)