Autor: HB

  • Haltlos

    Haltlos

    Wohin der Zug fährt?
    Wir haben es schon lange vergessen oder nie gewusst.
    Die Fahrt geht immer weiter.
    Wir sitzen bequem und können aus dem Fenster schauen.
    Auf eine schöne Gegend folgt eine hässliche, davor eine öde Landschaft.
    Und dann wieder alles von vorn.
    Ein endloser Kreislauf. Keine Höhepunkte. Nur mal etwas besser und dann wieder etwas schlechter.
    Hin und wieder sieht es in der Ferne aus, als wäre dort eine Haltestelle.
    Doch meist ist es nur ein verlassener Bahnhof, an dem der Zug nicht hält. Wir sind bereits an vielen dieser Art vorbeigefahren.

    Manchmal laufen andere Fahrgäste durch den Zug.
    Gerade schaut eine Frau ins Abteil hinein und öffnet die Tür. Ich habe sie schon ein paar Mal gesehen. Sie ist dünn, trägt immer sehr bunte Kleider, und heute wirkt sie müde. Was sie in der Hand hält, sieht zuerst aus wie eine Getränkedose. Doch es ist eine schlichte Blechdose mit Deckel. Sie schüttelt sie leicht, lächelt verschwörerisch und behauptet, es sei die echte Büchse der Pandora.
    Sie fragt mich, ob sie sie jetzt mal öffnen soll.
    „Natürlich nicht“, antworte ich.
    Doch sie hält es trotzdem für eine gute Idee. Ihr sei langweilig – diese ewige Warterei auf den nächsten richtigen Bahnhof, der niemals kommt.
    „Und selbst wenn wir mal anhalten, an dieser von allen ersehnten Haltestelle…“, sie hebt fragend eine Augenbraue, „…vielleicht ist es dort ein schrecklicher Ort? Schon mal darüber nachgedacht? Chaos ist immerhin eine Chance auf Verbesserung.“
    „Ich weiß gar nicht genau, was passiert, wenn die Büchse der Pandora geöffnet wird“, gebe ich zu. „Irgendwas mit absolutem Verderben, oder?“
    „Ja, so in etwa. In der griechischen Mythologie war Pandora die erste von Göttern erschaffene Frau. Sie war, wie geplant, schön, klug und neugierig. Zeus gab ihr eine Büchse, die sie niemals öffnen sollte. Aber weil Neugier quasi ihre Sollbruchstelle war, tat sie es natürlich doch und alles Übel der Welt entwich: Krankheit, Schmerz, Tod, Neid, Hass, Elend. Damit ging Zeus’ Racheplan an der Menschheit auf, denn er ärgerte sich darüber, dass Prometheus den Menschen das Feuer gebracht hatte. Warum ausgerechnet sie dafür büßen mussten, habe ich auch nie verstanden.“
    „Ok, soweit so schlecht. Aber zwei Fragen: Erstens – woher haben Sie eigentlich diese Dose? Zweitens – das ganze Übel ist doch längst auf der Welt und somit auch hier im Zug. Was würde sich also ändern?“
    Sie runzelt die Stirn: „Ich habe diese original Büchse der Pandora im Internet gekauft. Auf einer äußerst glaubwürdigen Seite. Mit Zertifikat.“
    „Von Zeus oder einem anderen Gott?“
    Darauf antwortet sie nicht mehr. Sie schließt kopfschüttelnd die Tür hinter sich und geht ein Abteil weiter.
    Wenn mir jetzt gleich schlecht wird, muss es also nicht am Frühstück liegen, denke ich. Daran könnte dann auch die arme Pandora schuld sein.
    Wir können uns hier im Zug etwas aus dem Internet bestellen? Das eröffnet ja völlig neue Möglichkeiten. Oder hatte die Frau sich die Büchse schon vor ihrem Einstieg besorgt? Wenn ich sie das nächste Mal sehe, muss ich sie unbedingt danach fragen.

    Gerade habe ich das Abteil ganz für mich allein, so oft kommt das nicht vor. Ich lehne mich an die Seitenwand und strecke zufrieden die Beine auf der Bank aus. Ich schaue aus dem Fenster. Der Ausblick ist nett: ein dichter Wald. Manchmal kann man darin sogar kurz ein Tier entdecken.

    „Hallo?“ Jemand rüttelt vorsichtig an meinem Fuß. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Ein älterer Mann sitzt mir gegenüber. Er trägt einen Anzug, der schon bessere Tage gesehen hat, die Ärmel sind leicht abgewetzt, und hält einen aufgeklappten Plan auf dem Schoß. Mit dem Zeigefinger fährt er über die Linien.
    „Hallo“, ich setze mich gerade hin und fühle mich noch ein wenig benommen.
    „Entschuldigen Sie die Störung. Wissen Sie, wann wir am nächsten Bahnhof ankommen?“ Er hält mir einen Abschnitt seiner abgegriffenen Karte entgegen.
    Ich muss etwas lachen. „Nein. Tut mir leid.“
    Er schaut mich irritiert an. „Sie müssen doch den Fahrplan kennen?!“
    „Sie sind noch nicht lange hier?“, frage ich ihn zurück.
    „Ich weiß es nicht. Aber jeder Zug muss sich schließlich an einen Fahrplan halten. Wenn Sie mir nicht helfen können, frage ich mal die Herrschaften nebenan. Einen schönen Tag noch.“
    Er erhebt sich und faltet knisternd seine Karte wieder zusammen. Dabei erkenne ich, dass dort keine Städte verzeichnet sind, nur leere Flächen und Linien. Doch in der Mitte steht ein Name oder Wort, mehrfach mit Stift umkreist. Durch eine tiefe Papierfalte lässt es sich nicht vollständig entziffern.
    Dann greift der Mann nach seinem Koffer und tritt hinaus auf den Gang.

    Bevor ich die zurückgewonnene Ruhe genießen kann, wird die Tür erneut aufgerissen.
    Eine Frau mit Kind. Das Mädchen, wohl im Grundschulalter, hält sie an der einen Hand, schiebt es leicht vor sich her. In der anderen trägt sie einen großen Koffer und unter den Arm geklemmt einen Strauß Blumen, schon etwas ramponiert, aber sicher einmal wunderschön. Ein paar Blütenblätter liegen bereits auf dem Boden.
    „Dürfen wir?“
    „Natürlich, gerne.“
    Das Mädchen setzt sich mir gegenüber ans Fenster. Um ihren Hals hängt an einem breiten Band ein Fernglas, das sie nun mit beiden Händen vor die Augen nimmt und an die Scheibe drückt.
    Die Frau lässt sich neben ihr nieder. „Ach, lass das doch mal!“, sagt sie kraftlos.
    „Ich will aber die Haltestelle als Erste sehen“, sagt das Mädchen ernst, ohne sich umzudrehen. Die Scheibe beschlägt leicht unter ihren Worten.
    „Na, dann mach mal.“ Die Frau seufzt und wendet sich lächelnd zu mir. „Wir sind bestimmt bald da. Meine Blumen brauchen dringend Wasser.“
    „Auf den WCs im Gang gibt es Wasserhähne“.
    „Ja, aber ich will hier nicht rumpanschen. Wir sind ja bald da“, sagt sie wieder.
    „Wenn Sie das sagen“, sage ich.
    Ich krame in meinem Rucksack und hole ein Buch hervor. Die Geschichte nimmt schnell Fahrt auf, und ich lasse mich gerne mitreißen.
    Wann die Frau und das Mädchen gegangen sind, habe ich nicht mitbekommen. Ich wache erst wieder auf, als es laut an die Tür klopft: „Brötchen?“

    Der Brötchenmann kommt öfter vorbei. Vielleicht etwas älter als ich, immer gut gelaunt. Manchmal unterhalten wir uns, wenn er Zeit hat. Seinen Namen habe ich irgendwann vergessen und jetzt traue mich nicht mehr, erneut danach zu fragen.
    Er trägt eine große Tasche mit frisch belegten Brötchen, aus der es verführerisch duftet, und in der anderen Hand eine Thermoskanne.
    „Gerne“, antworte ich und deute auf den freien Platz mir gegenüber.
    Wortlos reicht er mir ein Brötchen, meinen Geschmack kennt er inzwischen. Sich selbst gießt er ein dampfendes Getränk in einen Becher und lehnt sich zufrieden zurück.
    Ein paar Minuten einvernehmliche Stille, nur mein Kauen, sein Schlucken und das monotone Rollen des Zuges.
    Mit Blick aus dem Fenster sagt er: „Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich schon immer hier unterwegs, ohne Anfang und ohne Ziel. Als wäre alles schon immer so. Wissen Sie, was ich meine?“
    „Oh ja“, sage ich.
    „Ich glaube, ich fahre nur mit, um Brötchen unter die Leute zu bringen. Ich kaufe sie ein paar Abteile weiter hinten. Viele Leute warten jeden Tag darauf. Das ist irgendwie mein Job geworden.“
    „Dann sind Sie gar kein Angestellter hier?“
    „Nein“, er lacht. „Mir ist nur langweilig.“
    „Und was machen Sie, wenn alle satt sind?“
    Er zuckt gelassen mit den Schultern, als könnte ihn diese Vorstellung nicht im Geringsten beunruhigen. „Dann warte ich, bis wieder jemand Hunger hat. Dauert nie lange. Oder ich suche mir eine andere Beschäftigung. Oder hoffe mit allen anderen auf eine Haltestelle.“
    Ich bin schon oft pragmatisch, aber er ist wohl der fröhlich pfeifende König der Pragmatiker. Vielleicht fährt der Zug ja gar nicht irgendwohin, sondern nur im Kreis, und ihm wäre es egal. Beneidenswert.

  • Nachtbühne

    Nachtbühne

    In manchen Nächten sieht die Straße aus wie eine perfekte Bühne für große und kleine Geschichten. Beim Blick aus dem Fenster denke ich dann darüber nach, ob es einen Film gibt, der in einer Nacht an so einer Kreuzung spielt.
    Sicher!
    Vielleicht kommt mir noch einer in den Sinn, während ich über mögliche Figuren nachdenke.

    Ich hätte zum Beispiel gerne einen Werwolf, der ganz am Ende der Straße sitzt und den Mond anheult.
    Es regnet.
    Er schüttelt sein nasses Fell und rennt auf allen Vieren davon.
    Später hören wir sein langgezogenes Geheul in der Ferne und fragen uns, ob er wohl einen Menschen angreifen wird. Schließlich ist er doch ein Werwolf, oder?

    Als Nächstes fährt ein Fahrradfahrer mitten auf der Straße, er hat ein hohes Tempo drauf, will bei dem Mistwetter schnell nach Hause, wo hoffentlich eine warme, gemütliche Wohnung auf ihn wartet.
    Oben wird er sich zuerst trockene Sachen anziehen und bestimmt eine Pizza in den Ofen werfen oder Reste von gestern in die Mikrowelle. Vielleicht wartet auch ein anderer Mensch auf ihn oder ein Tier oder beides oder vielleicht auch nur seine gemütliche Couch und ein Fernseher.
    Was auch immer, alles sei ihm gegönnt!

    Nun schlendern zwei junge Frauen auf die Kreuzung zu – komm, wir nennen sie Mädchen!
    Sie sind doch höchstens Anfang zwanzig.
    Sie kichern und haben sicher etwas getrunken.
    Sie sind von einem Laden auf den Weg zum nächsten oder doch schon auf dem Heimweg?
    Sie sind ausgelassen, unsterblich und pure Energie!
    Sie begreifen das Licht der Laternen als ihre Bühnenbeleuchtung.
    Sie ziehen ihre Schuhe aus, halten sie in den Händen und tanzen barfuß, lachend und singend im gelben Laternenschein durch die Pfützen in der Mitte der Straße.
    Wird es für sie ein ebenso wunderbarer und unvergesslicher Moment sein wie für jeden Menschen, der dieses spontane, bezaubernde Spektakel beobachten darf?
    Oder wachen sie morgen mit einem Kater auf, der ihnen nur ein paar verschwommene Erinnerungen an nasse Füße bietet?
    Das täte mir wirklich leid für sie.

    Natürlich darf ein frisch verliebtes Pärchen nicht fehlen!
    Du hast sicher auch schon auf sie gewartet, oder?
    Verliebte gehören auf so eine malerische Straße bei Nacht wie Butter auf eine Scheibe Brot!
    Hier lenkt sie nichts voneinander ab, und sie können sich gemeinsam so herrlich allein auf der großen, weiten Welt fühlen, die gerade ganz ihnen gehört. Alle anderen Menschen sind nur Nebendarsteller.
    Sie reden und reden und reden, sehen sich tief in die Augen – immer wieder, mal ganz kurz, doch immer öfter und immer länger.
    Ihre kleinen Finger treffen sich, wenn sie nebeneinander gehen. Berühren sich ganz zufällig, immer wieder – siehst Du?
    Und plötzlich laufen sie Hand in Hand, als wäre es das Natürlichste der Welt, während in Wirklichkeit gerade kleine Atombomben in ihrem Inneren explodieren.
    Oh, Hormone!
    Hach, die beiden sind so wunderschön!
    Gnade ihnen Gott oder Werauchimmer!
    Sie lachen, reden und reden weiter, gestikulieren nun einhändig, wegen dieser neuen Verbundenheit, als sie die Kreuzung überqueren.
    Mittlerweile regnet es nicht mehr, aber ich glaube, das ist ihnen ohnehin egal.
    Wir verlieren sie aus dem Blickfeld.
    Wohin sie ihr Weg wohl führt?

    Jetzt haben sie ihren Auftritt:
    Eine gemischte Gruppe auf dem Weg von A nach B. Die Heuschreckenplage der Nacht.
    Ein paar Männer, ein paar Frauen.
    Natürlich sind sie alle betrunken.
    Natürlich gibt es diese besonders lauten Leute – die Lautsprecher und Lautlacher.
    Sie rufen sich über die Köpfe hinweg Sätze zu und zurück, dann fängt einer an zu singen, und die anderen stimmen ein. Einige lachen dabei ein wenig verlegen, weil ihnen ja irgendwie schon bewusst ist, dass sie gerade nachts laut singend durch eine normale Straße ziehen, vorbei an Häusern, hinter deren dunklen Fenstern andere Menschen wohnen und schlafen – was also ein bisschen verrückt und gleichzeitig doch völlig egal ist … ja, wir sind schon ein verrückter Haufen, wir dürfen auch mal aus der Reihe tanzen, denken sie kichernd.
    Es gibt so viele Menschen mit nerviger Lache.
    Alkohol lässt leider nur den Trinkenden alles egal sein.
    Wir haben sie bald überstanden. Sie werden schon leiser.

    Zwischen all den Menschen und mystischen Gestalten laufen auch ganz normale Tiere über diese nächtliche Bühne.
    Schau da: ein Igel im Gebüsch, zwei Katzen, ein Marder und da ein Fuchs, der unter den Autos hindurch huscht. Ganz leise und schnell.
    Wie kleine Werbeunterbrechungen.

    Da ist schon viel los auf so einer kleinen Kreuzung bei Nacht.
    Ein Film darüber ist mir noch immer nicht eingefallen.
    Also denke ich mir bis dahin selbst einen aus.

  • Der Film, der in meinem Kopf besser war

    Der Film, der in meinem Kopf besser war

    Sehr wahrscheinlich hatte ich meinen ersten Kontakt zu „The Rocky Horror Picture Show“ durch den wunderbaren Film „Fame – Der Weg zum Ruhm“ von Alan Parker – irgendwann in den 80ern, vermutlich im Grundschulalter.
    In einer meiner Lieblingsszenen gehen die beiden Schauspielschüler Doris und Ralph, die gerade frisch zusammen waren, in ein kleines und rappelvolles Kino. Das verkleidete Publikum lebt jede Sekunde des Films auf der Leinwand mit: Es wird mitgesprochen, mitgesungen, im Chor reingerufen, Zeitungen und Regenschirme über den Kopf gehalten, Wasser und Reis fliegen durch den Saal – alles wirkt wie eine brodelnde, lebendige Einheit.
    Man sieht die Begeisterung und Leidenschaft in allen Gesichtern, auch Doris wird von der Stimmung so mitgerissen, dass sie aufspringt, ihre Bluse auszieht und nun im Unterhemd auf der Bühne mit den anderen den „Time Warp“ singt und tanzt.
    Was für ein unglaublich großartiger Film muss das sein, dachte mein junges Ich, das nun darauf lauerte, ihn endlich selbst zu sehen, und auf einen witzigen und gruseligen Film hoffte.
    Und es war ziemlich enttäuscht, als der Film dann tatsächlich etwas später mal im Fernsehen lief. Es gibt keine synchronisierte Version und Englisch konnte ich noch nicht. Auch sonst verstand ich von der Handlung nicht besonders viel. Ich habe wohl irgendwann mittendrin weitergeschaltet.

    Als ich 14 war, nahm mich meine Freundin M. mit auf eine Fete. Ein paar Häuser weiter feierte eine Nachbarstochter, die etwas älter als wir war, und die sie eingeladen hatte.
    M. war für mich diese Freundin für verrückte und abenteuerliche Sachen. Wir beide hatten zwar jeweils andere beste Freundinnen und einen gemeinsamen Freundeskreis, aber waren auch oft allein zusammen unterwegs und inspirierten uns dann gegenseitig gerne zu allerlei Blödsinn. Sie war ein echter Hippie-Typ: voller Flausen im Kopf, mit großen Idealen und viel Fantasie, aber auch optisch. Ein sehr großes, schlankes Mädchen mit glatten, halblangen Haaren – mich hat sie immer an einen Afghanischen Windhund erinnert, wie ihn Freunde von meinen Eltern hatten. Wir haben heute noch hin und wieder Kontakt, aber haben uns seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen.
    Als wir am frühen Abend das große Einfamilienhaus betraten, war die Feier schon in vollem Gange. Überall Leute – im Haus, im Garten – keine Eltern in Sicht. Alle Gäste waren älter als wir, vielleicht zwei bis fünf Jahre, also richtige Erwachsene für uns.
    Mit Getränken in den Händen gingen wir runter in den Party-Keller. Dort standen mehrere zusammengewürfelte alte Couchteile und ein für damalige Verhältnisse normal großer Röhrenfernseher. Gerade lief die zweite Hälfte der „Rocky Horror Picture Show“ und danach ein Video mit „Woodstock“-Konzertmitschnitten. Während wir dort saßen, ging ein paar Mal ein Joint rum.
    Ja, mehr Klischee geht fast nicht, aber M. und ich fanden es total cool. Weil wir schon Zigaretten rauchten, zogen wir nun mit betont gelassener Miene auch an den vorbei wandernden Tüten. Wir hatten beide bisher noch nie selbst gekifft. Später, auf dem Heimweg zu ihr, waren wir uns beide nicht sicher, ob wir nach den paar kurzen Zügen eine Wirkung merkten oder einfach nur natürlich überdreht waren. Kurz zuvor war oben im Wohnzimmer noch die große Fensterfront zu Bruch gegangen, als ein zu wilder Pogo-Tänzer in die Scheibe gefallen war. Auch dieses Klischee, der Albtraum aller Eltern, wurde an dem Abend erfüllt und die Nachbarin durfte wohl für sehr lange Zeit, vielleicht nie wieder, dort eine Fete feiern.

    Ich nehme an, dass es eine Weile nach diesem Abend war, als ich mir den Soundtrack auf CD im Plattenladen bestellte. Ein US-Import für über 30 DM, den daran klebenden Zettel habe ich aufgehoben. Ein paar Jahre später gab es die CD regulär, und noch etwas später oft in den Ramsch-Kisten, für ein paar Mark oder noch später Euro.

    In Berlin wurde früher regelmäßig die „Rocky Horror Picture Show“ im Freiluftkino Waldbühne gezeigt – ich weiß nicht, wie das heute ist. An diesen Tagen sah man öfter entsprechend verkleidete Leute in der U-Bahn oder der näheren Umgebung. Ich selbst habe den Film dort nie gesehen, obwohl es bestimmt ein tolles Erlebnis gewesen wäre.
    Überhaupt habe ich ihn komplett vielleicht nur drei- oder viermal gesehen. Er ist ganz witzig und herrlich trashig, aber nicht das faszinierende Meisterwerk, das ich als Kind erwartet hatte. Der Soundtrack macht in großen Abständen Spaß.
    Wenn ich an Tim Curry denke, denke ich zuerst an Pennywise aus „Es“. Bill Skarsgard hat es zwar auch gut gemacht, aber Tim Curry bleibt mein Pennywise. Und bei Meat Loaf denke ich vor allem an ihn allgemein als Sänger und vielleicht auch an „Fight Club“ („Sein Name war Robert Paulson“).

    Als ich nun vor ein paar Tagen beim Putzen den Soundtrack hörte und all diese Erinnerungen hochkamen, dachte ich: Der wahre Zauber mancher Filme liegt vielleicht in der Vorstellung, die man vorher davon hat. Außerdem, dass ich eine ziemlich tolle Jugend hatte.
    Und, dass der Soundtrack zum Putzen erstaunlich gut geeignet ist.

  • Bernd

    Bernd

    Es begann an einem herrlich sonnigen Frühlingstag mit meinem Sturz. Beim Einkauf auf dem Markt blieb ich mit dem Fuß an einem Draht hängen und lag eine unendlich lange Sekunde später auf dem Steinboden. Als Letztes berührte mein Kinn den Boden. Ja, alles tat tagelang fies weh, doch war zum Glück kein Beinbruch. Noch nicht mal die Jeans war kaputt gegangen. Die Schwellung an den Knien ging schnell zurück und meine Schienbeine schillerten bald in allen Regenbogenfarben. Von Weitem hätte man es locker für coole Tattoos halten können. Insgesamt war ich recht glimpflich davon gekommen.
    Leider entzündete sich dann das aufgeschürfte Kinn, weil ich zu schnell den Schorf abgekratzt und dann allergisch auf eine Salbe reagiert hatte. Mist!
    Darum trug ich nun seit Tagen ein Pflaster im Gesicht, genau in der Mitte des Kinns, weiß und rechteckig, das aussah wie ein Ein-und-Ausschalter.
    Ich war genervt und rechnete mit einer Narbe.
    Genervt war ich auch von den zahlreichen „Zum Mitnehmen“-Stellen in unserer Wohngegend. Das hat hier im Laufe der Jahre Überhand genommen. Natürlich gibt es Sachen, die auf diesem Wege neue Besitzer finden, aber ein Großteil ist einfach nur Schrott, altes und kaputtes Zeug, das faul unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit an Hauseingängen, Bänken und Gehwegen entsorgt wird.
    Ich war noch nie auf die Idee gekommen, von dort etwas mitzunehmen. Doch ein paar Tage nach dem Sturz lag auf einer dieser Müllecken ein dicker alter Wälzer mit dem Titel „Hausrezepte“. Im Vorbeigehen blieb mein Blick daran hängen. Er sprach mich irgendwie an, sah gut erhalten und sauber aus. Ich blieb stehen, griff nach dem schweren Buch und nahm es spontan mit. Ohne weiter darüber nachzudenken. Noch nicht mal darin geblättert hatte ich.

    Oben in der Wohnung warf ich natürlich einen Blick hinein. Als ich es zum ersten Mal aufschlug, einfach irgendwo in der Mitte, stand auf der Seite die Überschrift „Schnelle Wundheilung“. Ich schwöre! Echt!
    Die Zutatenliste für dieses alte Hausrezept, das eine blitzschnelle Wundheilung versprach, war überraschend. Ich werde mich hüten, sie hier aufzuzählen, Ihr müsst mir einfach glauben, dass es teilweise sehr merkwürdige Zutaten waren.
    Man sollte alles in einem feuerfesten Topf vermengen und darin über Nacht bei 190 Grad im Ofen backen lassen.
    Mein Mann war etwas skeptischer als ich, doch neugierig waren wir beide auf das Ergebnis am nächsten Morgen. Ich rechnete mit einem Pulver oder einer Art Paste. Es standen keine Anwendungshinweise unter dem Rezept.

    Beim ersten Blick durch die Ofentür sah ich am Morgen, dass der Deckel neben dem Topf auf dem Backblech lag. War der Inhalt so aufgegangen, dass er hinuntergerutscht war?
    Ich öffnete die Tür und zog das Blech mit dem Topf heraus und im Topf saß ein kleiner Drache. Etwa so groß wie ein Apfel, aber schlank und braun, mit Flügeln, winzigen Krallen und einem schmalen Kopf mit nadelspitzen Zähnchen. Wobei ich jetzt nicht glaube, dass ich sofort begriffen hatte, was ich da sah. Eher dachte ich irgendwas Konfuses zwischen Schreck und Ekel und WTF. Und schmiss die Ofentür wieder zu.

    Wahrscheinlich hatte ich dabei ein lautes erschrockenes Geräusch von mir gegeben, denn kurze Zeit später stand mein Mann neben mir und wir schauten beide durch die Glastür in den Ofen. Aus dem Topf guckte der kleine Drachenkopf neugierig zu uns hinaus.
    „Das ist keine Salbe.“
    „Nee… Das ist keine Salbe.“
    Wir waren angemessen verwirrt.
    „Stand davon nichts in dem komischen Buch?“, fragte er.
    Unter dem Rezept war ein winzigklein gedruckter Verweis auf eine andere Seite im hinteren Teil des Buches, wie wir nun entdeckten. Dort lasen wir, dass der Drache eine Art Manifestation der Wunde war. Oder so. Der Text war ziemlich verworren geschrieben. Jedenfalls bliebe die Wunde narbenlos verschwunden, solange der Drache lebt. Und wirklich, als ich das Pflaster entfernte, sah es darunter aus, als wäre niemals etwas geschehen.
    Nun waren wir angemessen beeindruckt.
    „Und jetzt?“, fragte ich.
    „Gute Frage. Was machen wir mit dem … Drachen?“ Er sah in den Ofen und fing an zu grinsen. „Bist du jetzt eine Khaleesi?“
    „Nein, ich bin keine Drachenmutter. Wird der etwa größer? Das könnte problematisch werden.“
    Im Buch stand, dass sich die Körpergröße nach der Menge des Futters und der Größe des Käfigs entwickelt. Was erst mal eine beruhigende Aussage war. Wohl ähnlich, wie es bei Goldfischen sein soll.

    Nicht zuletzt, weil man so einen kleinen Drachen nicht einfach ins nächste Tierheim bringt, beschlossen wir, ihn zu behalten. Er war schnell zutraulich und ist überhaupt ein echt niedliches Kerlchen.
    „Wie wollen wir ihn nennen?“, fragte ich am Abend meinen Mann, der gerade einen Artikel über die gesichert rechtsextreme Partei las und spontan „Bernd“ antwortete.
    „Bernd der Drache?“
    „Nee, keine Ahnung, uns fällt bestimmt was Besseres ein.“
    „Warum eigentlich nicht? Gibt ja auch noch andere Bernds. Stromberg zum Beispiel. Oder das Brot. Irgendwie hat er auch was von einem Bernd.“

    Also haben wir nun zwei Katzen und einen Drachen. Die Katzen finden Bernd noch immer ein wenig unheimlich. Besonders, weil er kurze Strecken fliegen und etwas Feuer spucken kann. In der Stärke und Zuverlässigkeit von einem fast leeren Feuerzeug. Würde ich noch rauchen, wäre es schon cool, mir mal von einem Drachen die Zigaretten anzünden zu lassen. Stattdessen üben wir gerade das Anzünden von Kerzen.
    Er hat ein großes (doch nicht zu großes) Terrarium bekommen, das feuerfest und gemütlich eingerichtet ist. Natürlich darf er oft raus, doch man muss ihn im Auge behalten – vor einigen Tagen hat er ein Kissen in Brand gesetzt und wir haben schon einige Shirts mit Brandflecken.
    Bisher haben wir kein weiteres Rezept aus dem Kochbuch ausprobiert. Und es auch erst mal nicht vor.
    Ich wüsste zu gerne, was der Vorbesitzer mit dem Buch erlebt hat.

    Anmerkung:
    Dem aufmerksamen Leser wird sicher aufgefallen sein, dass das hier keine 100%ig wahre Geschichte ist. Erwischt! Der Bernd aus der schrecklichen Partei heißt eigentlich Björn. Schuld daran ist die „heute-show“ und Bernd klingt einfach besser.

  • Gedankensprünge – Katzen, Kunst und Klone

    Gedankensprünge – Katzen, Kunst und Klone

    Ein freier Nachmittag. Ich liege auf dem Bett, meinem eigenen stillen Meeresgrund, und kraule die selbst ernannte Königin aller Hauskatzen an Brust und Bauch, die sich wie eine wonnige und fellige Kellerassel neben mir kringelt und dabei laut und knatternd schurrt.
    Gleichzeitig denke ich darüber nach, ein Bild zu malen, etwas Neues auszuprobieren. Ich habe da so ein inspirierendes Video gesehen. In Gedanken male ich mir mögliche Ergebnisse aus.

    Und mir fällt ein, dass ich meiner Nichte noch eine Geburtstagsmail schreiben muss.

    Und der Gedanke ans Schreiben generell ist schon verlockend, beispielsweise ist da doch diese eine angefangene Geschichte, an der ich unbedingt weiterschreiben möchte. Denke über Namen nach. Irgendwie stimmen noch nicht alle, einige fühlen sich nicht richtig an. Dadurch die Figuren nicht lebendig. Die Hoffnung auf den „Mondenkind“-Moment von dem Bastian in meinem Kopf für sie alle.

    Und, wo ich nun bei Geschichten bin, ich hätte jetzt auch große Lust darauf, mein aktuelles Buch weiterzulesen. Endlich mal wieder ein richtig spannender Pageturner, man rast über Seiten und genießt das Kopfkino dabei.

    Und da ist doch noch dieser Daumenkino-Rohling, der seit vielen Tagen unbemalt auf meinem Schreibtisch liegt – ich habe schon ein kleines Drehbuch skizziert und endlich einen Anlass, mal das Lichtbrett auszuprobieren, das ich vor Monaten geschenkt bekommen habe.

    Und…

    Und…

    Und…

    Wie wunderbar wäre es, wenn ich mich jetzt sofort in mehrere Personen aufspalten könnte? Alle Ichs wären dann ganz vertieft in ihr Tun und glücklich. Sie wären frei von den Gedanken darüber, was sie jetzt auch gerade anderes Tolles machen könnten.
    Sicher wäre auch ein Ich darunter, das ganz happy NICHTS macht.

    Ich stehe auf, setze mich im Arbeitszimmer an den Schreibtisch, schreibe eine kurze Geburtstagsmail, lasse mich danach von YouTube berieseln und überlege währenddessen weiter, was ich nun machen könnte. Dieses? Jenes? Oder welches?
    Bis es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Dort werde ich dann lesen.

    Immerhin.

  • Nachts, wenn die Raucher frieren

    Nachts, wenn die Raucher frieren

    Der Anorak raschelt. Ich weiß jetzt wieder, warum ich ihn nicht gerne anziehe. Doch für den Balkon reicht es. Der Winter ist wohl die beste Zeit, um mit dem Rauchen aufzuhören. Die Luft ist kalt und riecht nach Kälte. Es ist schon den halben Tag stockfinster, aber um diese Zeit jetzt wäre es auch im Sommer schon dunkel.
    Ich setze mich auf die Bank. Drehe eine Zigarette. Hab mal gehört, dass es Selbstdrehern schwerer fällt, aufzuhören, weil das Drehen so ein angenehm produktiver Moment ist, mit der Befriedigung, ein kleines Kunstwerk geschaffen zu haben. Das sich dann in Rauch und Asche auflöst. Da mag was dran sein. Knister, knister. Fertig. Das Feuerzeug klingt laut in der Nachtstille. Ein klassisches BIC. Klickfeuerzeuge finde ich aus irgendeinem Grund assi. Ich bin manchmal verflucht oldschool. Merkt man ja auch am Rauchen. Total out.
    Aber gerade finde ich es schön, draußen zu sein. Die meisten Fenster sind dunkel. Gegenüber läuft jemand mit einer Stirnlampe den Weg entlang und verschwindet in einem Haus.
    Auf dem Balkon bin ich ein unsichtbarer Beobachter.
    Ich sehe die Sterne. Ein klarer Himmel. Kein Mond in Sicht. Es weht ein leichter Wind, doch es ist kein Laub mehr zum Rascheln da.
    Ich scrolle auf dem Handy rum. Ich habe darauf kaum Socialmedia-Apps oder Spiele. Also wird es schnell langweilig. Ich sehe mir darum meine heutige Pulskurve an. Was für ein ruhiger Tag. Dann gucke ich in der Wo ist?-App, ob er noch unterwegs ist. Ja. Sehe, dass meine Mutter zu Hause ist. Wo soll sie auch sonst um die Zeit sein?
    Meistens finde ich es beruhigend, dass auch ich immer zu orten bin. Sollte mal etwas passieren. Manchmal etwas beengend. So ein „Zwei-Seiten-der-Medaille“-Ding. Ich bin froh, dass es das noch nicht gab, als ich jung war. Da war es doch großartig, mal frei und unerreichbar zu sein. In der Zeit vor den Handys. Ich kann jedoch verstehen, wie beruhigend es Eltern heute finden, ihre Kinder nicht suchen zu müssen. Sie sind immer ein Punkt auf der Karte und nur einen Anruf oder eine Nachricht entfernt. Bei anderen finde ich es ja auch praktisch. Gerade fände ich es sogar nett, jederzeit jeden Menschen orten zu können, den ich so kenne. Einfach nur so. Lauter vertraute Punkte auf der Karte verteilt. Ein sichtbares soziales Netz. Aber das ist nur ein Gedankenspiel, in der Realität wäre das schon ziemlich gruselig.
    Der Anorak hält warm. Meine Nase wird kalt.
    Und jetzt der Klassiker: Irgendwo bellt ein Hund. Das soll einer der häufigsten Sätze in Romanen sein. Egal, welches Genre. Seit ich das mal gelesen habe, fällt es mir jedes Mal auf, wenn in Geschichten irgendwo Hunde eine lebendige Umgebungsstimmung erzeugen sollen. Mein Hund in der Ferne gerade bellt mit einer Regelmäßigkeit, als hätte er Schluckauf. Ich denke an diese Szene bei „Family Guy“, in der man hört, worüber sich in der Nacht bellende Hunde unterhalten: „Hallo?“ – „Hallo!“ – „Bist du ein Hund?“ – „Ja!“ – „Ich bin auch ein Hund!“ – „Ist ja klasse!“ – „Wir sind Hunde, die nebeneinander wohnen!“ – „Ja, wir sind voll die Hunde!“.
    Die Zigarette ist fast aufgeraucht.
    Meine Pläne für dieses Jahr, in dem ich ein halbes Jahrhundert alt werde: Nichtraucher werden, kreativ, aktiv und gesund bleiben und das gerne auch noch etwas steigern, immer wieder neue Sachen ausprobieren, den Weltwahnsinn mit einer guten Portion Gelassenheit & Humor ertragen und mich über die schönen Momente im Leben freuen.
    Jetzt freue ich mich darauf, zurück ins Warme zu gehen.