Der Film, der in meinem Kopf besser war

Sehr wahrscheinlich hatte ich meinen ersten Kontakt zu „The Rocky Horror Picture Show“ durch den wunderbaren Film „Fame – Der Weg zum Ruhm“ von Alan Parker – irgendwann in den 80ern, vermutlich im Grundschulalter.
In einer meiner Lieblingsszenen gehen die beiden Schauspielschüler Doris und Ralph, die gerade frisch zusammen waren, in ein kleines und rappelvolles Kino. Das verkleidete Publikum lebt jede Sekunde des Films auf der Leinwand mit: Es wird mitgesprochen, mitgesungen, im Chor reingerufen, Zeitungen und Regenschirme über den Kopf gehalten, Wasser und Reis fliegen durch den Saal – alles wirkt wie eine brodelnde, lebendige Einheit.
Man sieht die Begeisterung und Leidenschaft in allen Gesichtern, auch Doris wird von der Stimmung so mitgerissen, dass sie aufspringt, ihre Bluse auszieht und nun im Unterhemd auf der Bühne mit den anderen den „Time Warp“ singt und tanzt.
Was für ein unglaublich großartiger Film muss das sein, dachte mein junges Ich, das nun darauf lauerte, ihn endlich selbst zu sehen, und auf einen witzigen und gruseligen Film hoffte.
Und es war ziemlich enttäuscht, als der Film dann tatsächlich etwas später mal im Fernsehen lief. Es gibt keine synchronisierte Version und Englisch konnte ich noch nicht. Auch sonst verstand ich von der Handlung nicht besonders viel. Ich habe wohl irgendwann mittendrin weitergeschaltet.

Als ich 14 war, nahm mich meine Freundin M. mit auf eine Fete. Ein paar Häuser weiter feierte eine Nachbarstochter, die etwas älter als wir war, und die sie eingeladen hatte.
M. war für mich diese Freundin für verrückte und abenteuerliche Sachen. Wir beide hatten zwar jeweils andere beste Freundinnen und einen gemeinsamen Freundeskreis, aber waren auch oft allein zusammen unterwegs und inspirierten uns dann gegenseitig gerne zu allerlei Blödsinn. Sie war ein echter Hippie-Typ: voller Flausen im Kopf, mit großen Idealen und viel Fantasie, aber auch optisch. Ein sehr großes, schlankes Mädchen mit glatten, halblangen Haaren – mich hat sie immer an einen Afghanischen Windhund erinnert, wie ihn Freunde von meinen Eltern hatten. Wir haben heute noch hin und wieder Kontakt, aber haben uns seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen.
Als wir am frühen Abend das große Einfamilienhaus betraten, war die Feier schon in vollem Gange. Überall Leute – im Haus, im Garten – keine Eltern in Sicht. Alle Gäste waren älter als wir, vielleicht zwei bis fünf Jahre, also richtige Erwachsene für uns.
Mit Getränken in den Händen gingen wir runter in den Party-Keller. Dort standen mehrere zusammengewürfelte alte Couchteile und ein für damalige Verhältnisse normal großer Röhrenfernseher. Gerade lief die zweite Hälfte der „Rocky Horror Picture Show“ und danach ein Video mit „Woodstock“-Konzertmitschnitten. Während wir dort saßen, ging ein paar Mal ein Joint rum.
Ja, mehr Klischee geht fast nicht, aber M. und ich fanden es total cool. Weil wir schon Zigaretten rauchten, zogen wir nun mit betont gelassener Miene auch an den vorbei wandernden Tüten. Wir hatten beide bisher noch nie selbst gekifft. Später, auf dem Heimweg zu ihr, waren wir uns beide nicht sicher, ob wir nach den paar kurzen Zügen eine Wirkung merkten oder einfach nur natürlich überdreht waren. Kurz zuvor war oben im Wohnzimmer noch die große Fensterfront zu Bruch gegangen, als ein zu wilder Pogo-Tänzer in die Scheibe gefallen war. Auch dieses Klischee, der Albtraum aller Eltern, wurde an dem Abend erfüllt und die Nachbarin durfte wohl für sehr lange Zeit, vielleicht nie wieder, dort eine Fete feiern.

Ich nehme an, dass es eine Weile nach diesem Abend war, als ich mir den Soundtrack auf CD im Plattenladen bestellte. Ein US-Import für über 30 DM, den daran klebenden Zettel habe ich aufgehoben. Ein paar Jahre später gab es die CD regulär, und noch etwas später oft in den Ramsch-Kisten, für ein paar Mark oder noch später Euro.

In Berlin wurde früher regelmäßig die „Rocky Horror Picture Show“ im Freiluftkino Waldbühne gezeigt – ich weiß nicht, wie das heute ist. An diesen Tagen sah man öfter entsprechend verkleidete Leute in der U-Bahn oder der näheren Umgebung. Ich selbst habe den Film dort nie gesehen, obwohl es bestimmt ein tolles Erlebnis gewesen wäre.
Überhaupt habe ich ihn komplett vielleicht nur drei- oder viermal gesehen. Er ist ganz witzig und herrlich trashig, aber nicht das faszinierende Meisterwerk, das ich als Kind erwartet hatte. Der Soundtrack macht in großen Abständen Spaß.
Wenn ich an Tim Curry denke, denke ich zuerst an Pennywise aus „Es“. Bill Skarsgard hat es zwar auch gut gemacht, aber Tim Curry bleibt mein Pennywise. Und bei Meat Loaf denke ich vor allem an ihn allgemein als Sänger und vielleicht auch an „Fight Club“ („Sein Name war Robert Paulson“).

Als ich nun vor ein paar Tagen beim Putzen den Soundtrack hörte und all diese Erinnerungen hochkamen, dachte ich: Der wahre Zauber mancher Filme liegt vielleicht in der Vorstellung, die man vorher davon hat. Außerdem, dass ich eine ziemlich tolle Jugend hatte.
Und, dass der Soundtrack zum Putzen erstaunlich gut geeignet ist.